Vor dem Spiegel

Nachdem du gegangen bist, stehe ich vor dem Badezimmerspiegel, die Hände auf das Waschbecken gestützt. Lange sehe ich in meine eigenen Augen, die unerbittlich aus dem glatten Glas zurückstarren. Ich bin wütend, das versuche ich meinem Spiegelbild stumm entgegen zu schreien. Aus meinem Mund kann kein Ton kommen. Wütend. Wütend.

Ich will Antworten von dem Mädchen im Spiegel. Auf die Frage, warum es so dumm gewesen ist. Auf die Frage, wie es möglich ist, dass es sich so sehr dafür schämt, glücklich gewesen zu sein. Warum es auf sich selbst wütend ist, anstatt auf dich. Ich will auch wissen, wie sich vermissen anfühlt. Worauf ich mich einstellen muss.

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Das unsichtbare Orchester

Er dirigierte ein ganzes Orchester. Mit geradem Rücken sitzend, die Augen geschlossen, ließ er die Musik anschwellen, seine Gedanken durchdringen, umfließen, sie fortspülen, bis nichts blieb außer den Höhen und Tiefen der Klänge in seinem Kopf. Und als er ganz und gar in ihnen verloren war, hob er langsam, ganz vorsichtig, die Hände und begann, im Takt auf seine Oberschenkel zu trommeln. Zuerst leise und vorsichtig, während er sich mit den Tönen vertraut machte, dann immer energischer, lauter. Die ersten Fahrgäste drehten sich zu ihm um, reckten neugierig die Hälse oder blickten verwirrt von den Seiten der Bücher auf, mit denen sie sich die Fahrtzeit zu vertreiben versuchten, durch das rhythmische Klopfen seiner Hände aus ihren Fantasiewelten gerissen.

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Meer auf Asphalt

Das Wasser, das sich in dem Schlagloch vor deinem Haus gesammelt hat, ist kalt.
Meine Schuhe halte ich an den Schnürbändern in meiner linken Hand. Sie wehen leicht in dem trägen Großstadtwind, der die Oberfläche der knöcheltiefen Pfütze kräuselt und damit spielt. Ich will nicht hinuntersehen, auf meine nackten Füße in unruhigem Wasser. Denn so, wie die Spiegelungen der Bäume dort in Unordnung geraten, erinnern sie mich zu sehr an uns.
Wenn ich die Augen schließe und tief einatme, ist es fast, als wäre ich am Meer. Wenn ich mir vorstelle, dass anstelle des Geruchs nach den Abgasen der Autos und dem Gestank der zwei Straßenecken entfernten Imbissbude ein frischer, sauberer Duft nach Salz und Wind in der Luft liegt, vergesse ich fast die groben Steine und den harten Asphalt unter den Sohlen meiner Füße und kann stattdessen weichen, kühlen Sand zwischen meinen Zehen spüren.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon hier stehe.
Ich weiß nicht genau, wann ich angefangen habe, auf meiner Unterlippe zu kauen, ich weiß nicht genau, seit wann ich diese leichte Note von metallischem Blut schmecke.
Ich weiß nicht mehr genau.

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Tagebuch eines Wartenden

Der Kaffee in der kleinen, filigranen Tasse vor mir auf dem Tisch war von einem tiefen Schwarz. Ich nahm das Milchkännchen in die eine, den Kaffeelöffel in die andere Hand, beides ebenso zart und zerbrechlich wie die Tasse, und rührte Milch in das Getränk, bis es die Farbe von flüssigem Karamell hatte. Die gleiche Farbe wie jeden Morgen. Dann lehnte ich mich zurück und wartete.
Sie kam nicht. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, hatte ich es gewusst. Ich wusste es seit Monaten. Immer, wenn ich herkam. Und trotzdem saß ich immer wieder hier, jeden Morgen. Saß in der Sonne zwischen all diesen zufriedenen Menschen an dem winzigsten Tisch vor dem kleinsten Café in der Straße mit den Tassen, die so viel besser in ihre schlanken, blassen Hände gepasst hatten, als in meine breiten Pranken, und wartete.
Man hätte meinen können, es würde langweilig. Aber das wurde es nicht. Jeden Tag redete ich mir ein, davon überzeugt zu sein, sie würde kommen. An keinem war ich es tatsächlich und an keinem kam sie. Doch immer wieder saß ich da und das Herz schlug mir bis zum Hals und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als sie zu sehen. Gleichzeitig war es meine größte Angst, dass sie auftauchen könnte. Ich hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte, trotz all der Stunden, die ich mich darauf vorbereitet hatte.
Was wirst du tun, wenn du sie wiedersiehst?

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