„So viele Dinge sind für ein Kind selbstverständlich. Mit der Zeit fängt man dann an, sich zu wundern.“
Fräulein Smillas Gespür für Schnee, Peter Høeg
Der Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee des dänischen Autors Peter Høeg erzählt eine Geschichte von Sehnsucht, Einsamkeit und Verlust. Die Leben der durchweg schwierigen Charaktere sind auf die eine oder andere Weise von der politisch und sozial schwierige Beziehung zwischen Grönland und Dänemark geprägt. Gleichzeitig ist das Buch ein spannender Krimi, eine unglaublich dichte Erzählung mit viel – und wie ich finde sehr klugem – Inhalt.
Smilla Jaspersen trägt einen Panzer aus Eis. Sie wirkt kalt, wie die klare Luft Grönlands, wie Schnee. Halb Grönländerin, halb Dänin, hat sie ihre Kindheit in Grönland verbracht. Nach dem Tod ihrer Mutter holte ihr Vater, ein wohlhabender dänischer Arzt, sie jedoch nach Kopenhagen. Anfang der 1990er Jahre lebt sie dort allein und ohne Arbeit, in einer schmucklosen Wohnung in einem Gebäudekomplex, den man den „weißen Schnitt“ nennt. In der Nähe des Hafens, wo das Wasser in kalten Wintern zu dem Eis gefriert, das sie an ihre Heimat erinnert.
Verlieben tue sie sich nicht mehr, sagt Smilla. Viele Freunde hat sie ebenfalls nicht. Andere Menschen betrachtet sie zu klar, blickt schonungslos in ihr Innerstes. Oft, so wirkt es, mit einer paradoxen Mischung aus sarkastischer Verachtung und Mitleid gegenüber ihren Makeln und menschlichen Schwächen. Auch sich selbst beschreibt sie in dieser beinahe brutal rationalen Weise.
Nur mit dem kleinen Grönländischen Nachbarjungen Jesaja ist es anders. Zu ihm empfindet Smilla eine tiefe Zuneigung, von ihm fühlt sie sich verstanden. Bis er von einem verschneiten Häuserdach stürzt und stirbt.
Ein Gespür für Schnee
Smilla vermisst Jesaja, ist jedoch davon überzeugt, dass man sich das Recht auf Trauer verdienen müsse. Und etwas an den Umständen von Jesajas Tod lässt ihr keine Ruhe. Nicht nur, dass der Junge Höhenangst hatte und deshalb niemals auf einem Dach gespielt hätte. Da ist noch etwas anderes: Jesajas Spuren im Schnee scheinen nicht zu dem Bild zu passen, das Polizei und Gerichtsmediziner von seinem Tod malen. Dessen ist sich Smilla ganz sicher, denn sie hat ein Gespür für Schnee.
Also beginnt sie, auf eigene Faust zu ermitteln. Zierlich und gut gekleidet, in Lederstiefeln und maßgeschneiderten Hosen, finanziert durch ihren Vater, einen wohlhabenden und erfolgreichen dänischen Arzt, zu dem sie ein schwieriges und facettenreiches Verhältnis hat. Und immer mit einer großen Sehnsucht im Herzen, einem Heimweh nach der weißen Weite des Grönlands ihrer Kindheit.

Ich schaue in den Sonnenuntergang, der in dieser Jahreszeit drei Stunden dauert. Als habe die Sonne zum Abschied doch noch Qualitäten in der Welt entdeckt, die sie nur widerstrebend Abschied nehmen lassen.“
Fräulein Smillas Gespür für Schnee, Peter Høeg
Smillas kluge, rationale Kühle lässt sie klare und oft traurige Wahrheiten formulieren. Es sind die Wahrheiten einer verletzten Frau. Sätze, die ich zwar als treffend empfinde, wenn ich Kummer habe, an die ich aber sonst nicht glauben möchte. Stellenweise wirkt es, als hätte Smilla jeden Glauben an das Gute in den Menschen verloren und gäbe sich darum nun eben mit dem Fehlerhaften zufrieden, das ihre Mitmenschen ihr präsentieren.
Smilla Jaspersen – Ein vielschichtiger Charakter
Doch nach und nach bekommt auch Smillas Eispanzer Risse. Diese Entwicklung hat mich fasziniert. Weil Smilla sich dem Leser beim Erzählen nur langsam öffnet, man ihren Charakter, in dem sich tatsächlich doch Gefühle, Zuneigung und vor allem Schmerz verstecken, und ihre Vergangenheit nur allmählich kennenlernt, entwickelt man einen besondere Beziehung zu ihrer Figur. Die Geschichte hat mich langsam gepackt, dafür aber intensiv.
Mit Fräulein Smillas Gespür für Schnee hat Peter Høeg nicht nur einen spannenden Krimi geschaffen. Das Buch ist zugleich eine Gesellschaftskritik, eine Kritik am Umgang Dänemarks mit Grönland und der Dänen mit den Grönländern. Eine Erzählung vom Fremdsein und vom Sich-fremd-fühlen, von einer Identität die man verloren zu haben meint oder von der man meint, sie nicht mehr zu verdienen.