Meer auf Asphalt

Das Wasser, das sich in dem Schlagloch vor deinem Haus gesammelt hat, ist kalt.
Meine Schuhe halte ich an den Schnürbändern in meiner linken Hand. Sie wehen leicht in dem trägen Großstadtwind, der die Oberfläche der knöcheltiefen Pfütze kräuselt und damit spielt. Ich will nicht hinuntersehen, auf meine nackten Füße in unruhigem Wasser. Denn so, wie die Spiegelungen der Bäume dort in Unordnung geraten, erinnern sie mich zu sehr an uns.
Wenn ich die Augen schließe und tief einatme, ist es fast, als wäre ich am Meer. Wenn ich mir vorstelle, dass anstelle des Geruchs nach den Abgasen der Autos und dem Gestank der zwei Straßenecken entfernten Imbissbude ein frischer, sauberer Duft nach Salz und Wind in der Luft liegt, vergesse ich fast die groben Steine und den harten Asphalt unter den Sohlen meiner Füße und kann stattdessen weichen, kühlen Sand zwischen meinen Zehen spüren.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon hier stehe.
Ich weiß nicht genau, wann ich angefangen habe, auf meiner Unterlippe zu kauen, ich weiß nicht genau, seit wann ich diese leichte Note von metallischem Blut schmecke.
Ich weiß nicht mehr genau.
Ich glaube, dass es mir nicht gut geht, aber nicht einmal dessen bin ich mir sicher.
Irgendwo in meinem Hinterkopf drückt ein Gefühl gegen meine Gedanken. Es strahlt bis hinunter in meine Kehle und schnürt sie zu, so als müsse ich weinen. Wie das Gefühl, an etwas Schuld zu haben. Aber ich erinnere mich nicht, woran ich Schuld habe.
Irgendetwas vermisse ich auch. Darum bin ich hier, darum habe ich meine Schuhe ausgezogen und mich in die Pfütze gestellt. Genauer nachdenken kann ich nicht. Jeder Ansatz von Begreifen und Verstehen wird von der dumpfen, grauen Wolke hinter meinen Gedanken gegen meine Schädelwände gedrückt und dort langsam zerquetscht, an den Knochen gepresst gefangen gehalten. Eine hellgraue Wand baut sich in meinem Kopf auf. Es tut weh, als sie zu groß zu werden scheint. Mir ist schwindelig. Ich will mich setzen, hier, auf die grau asphaltierte Straße neben das Schlagloch, neben mein Meer, auf dessen Grund ich nach etwas suche, das meine Gedanken nicht greifen können.

Ich öffne meine Augen. Ich vermisse dich?
Hier zu stehen hilft mir nicht. Überhaupt nicht.
Die graue Wand in meinem Kopf wird zu einer Regenwolke, die sich langsam ausregnet. Jetzt weine ich wirklich. Meine Augen sind ein Ventil für schlechte Gedanken, die aus meinem Kopf fließen, Träne für Träne für Träne.
In einem Buch oder Film wärst du längst aus dem Haus gekommen, hättest mich gesehen und ins Warme gebeten. Und alles wäre so geworden, wir wir es uns beide im Unterbewusstsein gewünscht hätten. In einem besonders schlechten Buch oder Film würden wir uns ins Auto setzen und ans echte Meer fahren, das unsere Sorgen wegwaschen könnte und dort wären wir glücklich.
Es hätte uns gerettet und ich müsste mich nicht dafür schämen, weinend und in einem mit Wasser gefüllten Schlagloch stehend den Verstand verloren zu haben.
Aber das hier ist keine Geschichte, deren Ende man so schreiben kann, wie man es sich wünscht.
Das hier ist das Leben. Und eine schmutzige Pfütze ist nicht das Meer.
Im Leben werde ich nicht gerettet. Kann mich jemand wieder zusammenbauen, wenn ich auseinanderfalle? Als ich aus dem Schlagloch steige und die Knoten in den Schnürsenkeln meiner Turnschuhe löse, um die Stoffschuhe anziehen zu können, will ich mich selbst retten. Als ich auf dem Boden sitzend neue Schleifen in die Schnürbänder binde, ist der Stoff bereits nass und kalt vom Pfützenwasser an meinen Füßen.
Ich stehe auf und gehe los. Gehe fort von dir.
Heute Abend kann ich das. Aber ob ich es auch morgen noch kann, weiß ich eben nicht.

Zuerst koche ich mir einen Tee.
Danach müssen meine Schuhe trocknen. Zeitungspapier.
Abendessen.
Ein Film oder ein Buch.
Schlafen.
Aufstehen.
Duschen, Zähneputzen, Kaffee kochen.
Aus dem Haus gehen.
Irgendwann werde ich wieder in der Pfütze stehen. Aber nicht mehr heute. Und hoffentlich auch nicht morgen.

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